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Lebensweg - Etappe 5: Tag der Verbindung

Claudia Schallauer
03.06.2022

Sonntag, 22. Mai

Ich nenne den heutigen Tag „Verbindungstag“.  In mehrfacher Hinsicht:

  1. Wir haben uns mit dem Lebensweg verbunden, seinen Menschen, seiner Natur und seinem Rhythmus. Sind ein Teil von ihm geworden.
  2. Hier, zwischen Gutenbrunn, Martinsberg und dem „Damischen Graben“ verbindet sich die 3. Lebensweg-Schlaufe (für mich sieht der Wegverlauf wie ein Kleeblatt aus) und die Tagesetappen 5., 9. und 10. verlaufen teilweise parallel. Gut, dass wir schon drei Tage unseren Blick für den Wegverlauf geschult haben.
  3. Aus Punkt 2 resultierend: Fast jeder Weitwanderweg hat Stücke, die besondere Highlights verbinden und für sich selbst eher wenig attraktiv sind, vor allem, wenn sie großteils aus Asphaltwegen/-straßen sind, die von A nach B bringen.

 

Letzteres trifft auf die Etappe 5 zu, die gefühlt 90% aus Straßen besteht. Betrachtet man die Fotos, relativiert sich das Gefühl auf vielleicht "nur" ¾ der Strecke in Realität.

 

Wir sind auf alle Fälle gut gestärkt, haben wir doch in unserer „Lernphase“ noch etwas Neues genossen: unsere 1. Waldviertler Pizza. So nennen die Inhaber der Marschall Stuben die regionalen gerösteten Knödel, die sich extrem von unseren oberösterreichischen unterscheiden und ehrlich gesagt viel köstlicher sind. Und vom flacheren Erscheinungsbild aus Vogelperspektive an eine Pizza erinnern.  

 

Der heutige Tag steht im Zeichen der Pubertät, des Rebellierens. Grundsätzlich ist mein Körper nach 3 Tagen willig, hat sich schon gut an das Weitwandern angepasst: die Waden sind wieder fit, die Schultern stark und der Wille groß. Wir starten heute zeitiger, denn eine 20km-Strecke liegt vor uns. Am Tag 4 sind die Abläufe nun schon routiniert - die Koffer morgens für den Gepäcktransport schnell und übersichtlich gepackt - der Tagesrucksack mit zwei bis drei Flaschen pro Person gefüllt (eine mit magnesiumhaltigem Eistee, eine immer mit Sirup und etwas Salz und eine mit Wasser), das Handy geladen. Ich schreibe etwa 45 Minuten in der Früh, während meine Mama langsam erwacht und in ihrem Tempo in den Tag startet.

Wir beschränken uns auf ein Energiefrühstück mit Joghurt und Müsli und packen mit größter Vorfreude meinerseits einen original Waldviertler Mohnzelten als Lunch ein. Dazu frisches Gemüse und los geht’s. Kurz vor 9 Uhr verlassen wir den Marschallhof in Guttenbrunn von dem wir in wenigen Gehmetern kurz vor der Kirche links in den Lebensweg einbiegen. Das letzte Waldstück liegt vor uns, danach folgt die endlose sanft-hügelige Weite des Waldviertels mit dem liebgewonnenen Mosaik aus Feldern, Blumenwiesen, mächtigen Höfen und ihren Traktoren. Was wohl unter den Schutzhüllen gerade zum Leben erwacht?

Wir freuen uns an den pittoresquen Wolken, die sich mit uns auf den Weg machen.

In kurzer Zeit erreichen wir den Edelsberger See, der sehr verlockend zum Baden einlädt. Aufgrund der kühlen Morgentemperaturen passe ich diesmal, wissend, dass wir hierher zurückkommen! Der in Schlaufen angelegte Lebensweg führt in Etappe 9 über Martinsberg zurück, das macht meine Entscheidung leichter.

 

Heute nehme ich den körperlichen Unterschied zu gestern bewusst wahr - ich bin im Weitwandermodus angekommen. Entspannt, im Rhythmus, Seele und Körper im Einklang. Die Kilometer vergehen ohne große Höhenmeter und touristischer Highlights, was mir und meiner Mama Zeit schenkt, die letzten intensiv-eindrucksvollen Bilder und Informationen Revue passieren zu lassen und uns auf das spannende Tages-Thema "Pubertät" einzulassen. Zuerst in eigenen Gedanken, später im Austausch.

Wie damals in meiner Teenagerzeit bietet dieser Lebens- und heutige Geh-Sprächs-Abschnitt Spannungspotential durch Missverständnisse und dem Wunsch nach bewusstem Abgrenzen. Die heutige Umgebung fördert die nötige gedankliche Weite und ich erfahre unerwartet Neues zur Pubertät meiner Mama in den 70er Jahren als auch über ihre Erinnerungen an die meine Teenagerzeit. Ich konfrontiere mit einem Vorwurf und bin überrascht, als sich meine Mama dafür entschuldigt. Was mich in meinem Ansicht bestärkt, dass jede/r stets versucht, im Moment die beste Entscheidung zu treffen, die zu dem Zeitpunkt, mit dem vorhandenen Wissen und den zur Verfügung stehenden Mitteln möglich ist. Und meine Mama hat Großartiges geleistet, als Alleinerzieher und -verdienerin in den 80ern. Was ich erstmals mit 27 Jahren bewusst geschätzt habe, in jenem Alter, als sie mir das Leben geschenkt hat. Wie sehr ich mit 27 noch Kind war... 

 

Im Laufe des Lebens verändert sich die Mutter-Kind-Rolle. Während ich seit vielen Jahren für unsere Reisen die Hauptverantwortung trage, teilen wir uns diese beim Weitwandern bei der Wegfindung. Und das ist heute spannend, da wir durch die "Schlaufen" der Lebensweg Etappen 5,9 und 10 gelangen. Wir verlassen auf diesem Wegstück den bisherigen Ysper-Weitental-Weg Nr. 22 und folgen nun dem 2. "Ursprungsweg" 625, dem Kremstalweg nach Kirschlag.

 

Auf unserer Schleife am Weg dorthin liegt Roggenreith, mit der 1. Whisky Distillerie Niederösterreichs, die seit 27 Jahren zu Führungen einlädt und seit 120 Jahren im Familienbesitz ist. Mit der Besonderheit, dass hier Roggen vergoren wird, was in Europa einzigartig ist! Wie passend zum Lebensabschnitt Pubertät, allerdings nicht zur Tageszeit. Wir nehmen ein kleines Flascherl Mohn-Whisky mit (eines von vielen tollen Kooperationserzeugnisse lokaler Produzenten).

 

Was wir im Nachhinein bereuen ist, hier keine Kaffeepause eingelegt zu haben, da danach sehr lange keine gute Rastmöglichkeit mehr auftaucht. Nachdem wir etwa 4km nach der Distillerie erstmalig den Asphalt verlassen, gönnen wir uns im 1. Waldstück auf einem Stamm eine kurze Pause, da wir seit der Früh non-stop unterwegs waren. Der Mohnzelten gibt neue Energie für die kaum merklichen Höhenmeter.

 

Ob der Wegabschnitt als Ausrede gilt, dass ich kurz vor Ende rebelliere und dem Ursprung der kleinen Krems folge und von dort aus über kleine (offizielle) Feldwege den Direktweg zurück zum Lebensweg suche? Unsere vom Asphalt müden Beine springen vor Freude über den verfrühten Walduntergrund.

 

Wir erreichen Kirchschlag um kurz nach 15 Uhr, nachdem wir uns gegen eine Rast bei der idyllischen Hubertuskapelle mit Sitzbank, kurz vor Etappenende entschieden haben.

 

Die Abholung und der Transfer zu unserm Auto, das zu Beginn unserer 1. Etappe in St. Oswald auf uns wartet, funktionieren perfekt. Wir tauschen unseren Rucksack gegen einen Abschiedskaffee im Hotel des Glücks und stoßen mit einem kleinen Aperol auf den ersten von unseren drei geplanten Lebensweg-Aufenthalten an.

 

Wie unglaublich stolz bin ich auf meine Mama, die ihre 1. Weitwanderung mit so viel Bravour und Begeisterung und ihrem Vertrauen gemeistert hat. Als sie beim Zuprosten sagt, sie fühle sich so gesund wie noch nie, verstecke ich meine Tränen hinter der Sonnenbrille.

 

Kategorien Natur Bewegung Auszeit