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Lebensweg - Etappe 4: Wald-Tag der Entschleunigung

Claudia Schallauer
02.06.2022

Samstag 21. Mai:

Wir freuen uns auf unseren 1. Tag komplett ohne Termin. Während Tag 1 mit 5:00 Uhr-Abfahrt in OÖ und Transfer vom Hotel zum Start begann (daher auch meine Empfehlung, für alle, die die Zeit dafür haben: unbedingt am Vortag anreisen und schon einmal genüsslich nächtigen!), war es am Tag 2 "nur" der Shuttle zum Tagesstart, aber auch eine zeitliche Vorgabe und 80km/h. Für wahre Entschleunigung hilft meiner Meinung komplette Entmotorisierung.

 

Und das ist heute der Fall :-). Und noch dazu wartet heute eine verkürzte Etappe mit etwa 16 statt 24 Kilometern. Grund dafür ist, dass wir ursprünglich das Lebensweg-Weitwander-Paket des Waldviertel Tourismus buchen wollten, das die 4 Tagesetappen des Lebensweges 4-7 in verkürzter Form beinhaltet. Und hier startet der Tag 4 in Bärnkopf statt in Dorfstetten, was der Grund für unsere gestrige Autofahrt über den Schlesingersee erklärt.

 

Da wir aber die Ysperklamm unbedingt sehen wollten, ich immer mehr Gefallen an der Idee des Lebensweges und der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben in Austausch mit meiner Mama fand, deren Verletzung am Knie unerwartet schnell und gut verheilt ist, haben wir spontan beschlossen, alle Etappen zu gehen und die Tage 2 und 3 vor das "Package" gehängt.

 

Tag 1, der mit 29km und über 1000hm das längste und härteste Wegstück bereithält, werden wir „eingewandert“ nachholen, voraussichtlich im August. Alle anderen Etappen seit Tag 1 (Etappe 2) gehen wir nun allerdings chronologisch, beginnend bei „Schwangerschaft und Geburt“.

 

Heute steht das Alter 6-14 thematisch im Vordergrund, die Phase des LERNENS. Auch unser Körper lernt... allerdings ist meiner heute ziemlich müde von den zahlreichen Informationen, neuen Eindrücken und den bereits zurückgelegten über 50.000 Schritten. Im Vergleich zu meiner Mutter, die sehr viel in der Ebenen geht, bin ich Bergsteigerin und besser mit Höhenmetern als mit Weitgehen und das spüre ich :-). Daher beschließe ich, meine für 24h-Wanderungen erworbene Kompressions-Wandersocken anzuziehen... was eine gute Idee ist und meine Wadln wieder zum Leben erweckt.

 

Wir lassen uns heute ein bisschen Zeit, sortieren mal in Ruhe das Gepäck (die Koffer werden beim Package von Unterkunft zu Unterkunft transportiert, sodass man mit Tagesrucksack wandern kann) und genießen das Frühstück bevor wir durch das pittoresque Bärnkopf marschieren. Alle Häuser(fassaden) sind hier besonders schön gepflegt und auf Gartenzäune wird großteils komplett verzichtet, was dem Ort einen besonders einladenden Charakter verleiht. Die Gastfreundschaft unserer Unterkunftgeberin unterstreicht dies.

 

Wir verlassen die Zivilisation und tauchen ein in endloses Grün. Spätestens heute lernen wir, warum das WALDViertel seinen Namen trägt. Der Wind bläst eine Fanfare als wir den Weinsberger Forst, das größte geschlossene Waldgebiet von Österreich, betreten. Wohl zu Ehren dessen adeliger Besitzer, dem Habsburg-Lothring’schen Gut Persenbeug. Da mich als Wanderführer das Thema Wald mit all seinen Rechten (Wegefreiheit) und Regelungen immer schon sehr interessiert hat, habe ich diese Wanderung nun zum Anlass genommen, ein bisschen über die Besitz-Struktur des österreichischen Waldes zu recherchieren:
 

Fast die Hälfte von Österreich (rund 4 Millionen Hektar) ist bewaldet. An die 82 Prozent der Waldfläche teilen sich rund 145.000 Eigentümer, sind also in privater Hand. Damit liegt Österreich im Bezug auf den Privatanteil des Waldes innerhalb der Europäischen Union nach Portugal auf Platz zwei. Die restlichen 18 Prozent sind der sogenannte „öffentliche Wald“, 15% zählen zum Eigentum der Bundesforste. Quelle: https://www.bfw.gv.at/pressemeldungen/folder-wem-gehoert-osterreichs-wald/ 

Das Habsburg-Lothringen‘sche Gut besitzt ca. 13-14.000 ha und rangiert damit unter den Top 10 der größten Waldbesitzer Österreichs
(Quelle: https://www.wwf.at/artikel/8-fakten-zum-wald-in-oesterreich/)

Sie betreiben Forstwirtschaft nach dem Grundsatz der Nachhaltigkeit, was heißt, dass mehr Holz nachwächst, als genutzt wird. Sehr spannend auch die Beschreibung zu den Zielen und Aufgaben der Forstwirtschaft auf deren Seite: http://www.habsburg.at/forst.html

Die heutige Etappen-Motto-Mission Lernen ist definitiv erfüllt. Unser Kopf raucht vor neuem Wissen. Gut, dass es heute angenehm kühl ist. Das  angenehme Waldklima tut sein übriges.

 

Schritt für Schritt treten wir ein in einen Zauberwald aus gefühlten 200 shades of Green, die im Lichtspiel der einfallenden Sonne in allen Nuancen schimmern. Auffallend ist hier die dreidimensionale Mehrstufigkeit des Waldes: dem kaleidoskopartigen Bild aus Baumkronen himmelwärts, folgen mehrere Ebenen junger Nadelbäume, darunter Buschwerk, einzelne von Moos überwachsene Steine, vereinzelte Ameisenhügel und rings um den Wanderweg saftiges Gras und blühende Wiesenblumen. Schöner hätte es ein Maler nicht komponieren können. Wie ich zufällig eine Woche später bei einer Fortbildung lerne, heißt dieser Stufen-Wald mit alten und jungen Bäumen „Plenterwald“.

 

Und es wird noch schöner. Gestern Nacht hat es heftig geregnet (und geblitzt) und der Niederschlag hat einige Pfützen hinterlassen, die nun herrliche Spiegel-Fotomotive bieten.

Mit so viel Blick aufs Detail verpassen wir auch heute wieder eine Abzweigung, was ich aber bald bemerke. Generell möchte ich anmerken, dass der Lebensweg extrem gut beschildert ist und ich nur wenige Mal den als Back-Up vorbereitet gpx-Track zur Verifizierung und Abbiege-Entscheidung heranziehe. In eine App importiert enthält dieser auch nicht immer die 100%-ige Route, vor allem die kleineren Fußwege, die von Hauptstraßen wegführen sind nicht immer korrekt übernommen. Daher besser auf das Gefühl und die Augen verlassen. Besonders auch auf der heutigen Route sind die Wege sehr gut ausgeschildert, da wir uns in einem der größten Langlaufgebiete befinden, das sich von Bärnkopf bis Guttenbrunn erstreckt und über ein riesiges Wegenetz mit zahlreichen Routen verfügt. 

 

Nur wenig Straßen-Meter durchbrechen den Wohlfühlwald und wir versinken in meditatives Gehen und unsere eigenen Gedanken zum heutigen Etappen-Alter "6-14 Jahre", die Zeit des Lernens, Volksschule und Unterstufe. Farbenfrohe und lebhafte Bilder von meiner rosafarbenen Schultüte und den beiden grünen und violetten Geha-Stiften, mit denen wir das Schreiben lernten, tauchen auf. Meine Haupterinnerung besteht an unzählige Pausen, die wir mit Gummi hüpfen verbrachten, von denen wir Mädchen nie genug bekommen konnten, während Burschen für uns damals uninteressant waren und wir die "Willst du mit mir gehen"-Zetterl stets aufs Neue zerknüllten. Was wohl aus allen geworden ist?

 

Auch der Lebensweg wird uns, wie das begleitende Tagebuch so schön formuliert, weiter formen, ein Stück unserer Lebensgeschichte prägen. In meinem Fall vor allem durch die tiefen Gespräche mit meiner Mama. Und, jene mit unseren Unterkunftgebern, die mir schon nach zwei Tagen ein tiefes Verständnis für die Region und deren Entwicklungen vermittelt und mich auf wertvolle Weise bereichert haben.

 

Wir inhalieren die Schönheit und Vielfalt der Landschaft, die Sound-Kulisse aus munterem Vogelgezwitscher, Rauschen der Blätter und dem heutigen Quitsch-Quatsch unserer Schuhe, gelegentlich untermalt vom Brummen der Motorräder, da diese Gegend auch ein beliebtes Ausflugsmekka der Zweiradbegeisterten ist.

Wir setzen auf unsere zwei Bein-Stärke, die uns heute auf über 1.000 Meter tragen. Von der Ruine Weinsberg bzw. dem gleichnamigen Gipfelplateau genießen wir ein tolles Panorama und mit Blick auf den Ötscher gönne ich mir bereits um 11 Uhr ein 2. Frühstück, da mein Körper nun so richtig auf Verbrennungs-Motor läuft. Beim organisierten Wanderpackage ist immer auch ein Lunchpaket mit dabei, das bisher immer unkompliziert, teilweise selber vom Frühstücksbuffet, ergänzt mit Getränkeflaschen, mal Mannerwafferl, immer Obst zusammengestellt wurde. Da das gestrige Schnitzel aus zweien bestand, gibt's heute ein Schnitzerlsemmerl mit dem kleineren :-)

 

Nach dieser stärkenden Rast, schreiten wir im Rundweg die Stufen hinab, passieren die Markierung "Sie befinden sich hier genau auf 1000 Meter Seehöhe", begrüßen die Straße für drei Meter und schlagen einen Haken zurück in den Wald, wo wir 5 Kilometer südwärts weiterwandern.

Tag 3, für mich der Tag der Entschleunigung. Nichts das ablenkt, wir haben unseren Rhythmus aus Gehtempo und Ritualen gefunden. Spüren unsere Bedürfnisse. Statt world wide web - das WWW des Waldes: Wasser, Wind und Waldvögel. Schlechter Handyempfang unterstützt die Verbindung zur Natur.

 

Wir erfreuen uns an einer Lichtung und später am Hanslteich und erreichen auch Guttenbrunn auf einem schönen zur Hauptstraße parallel verlaufenden Fußweg. Und das absolute unerwartete Highlight: ein Kneipp- und Barfußweg verwöhnt unsere müden Wanderfüße, die wir in der Hängeliegeschaukel sanft schwingend trocknen lassen. Wir blicken in den Himmel, der heute erstmals mit Wolken geschmückt ist. Genauso wie diese ziehen auch unsere Gedanken - der Alltag ist weit fort und der Kopf leicht.

 

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